Globalisierung ist kein "Sachzwang".
Politische Entscheidungen werden gerne mit „Sachzwängen“ begründet. Ein häufig vorgeschobener Sachzwang ist die „Globalisierung“. Mit der Globalisierung sind fast alle politischen Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit begründet worden. Die Schröder’sche „Agenda 2010“ ebenso wie die zahlreichen Steuersenkungen für Unternehmen und Kapitaleinkünfte, die nicht minder zahlreichen Maßnahmen zur „Stärkung des Finanzplatzes Deutschland“, die Arbeitsmarktreformen oder die ständigen Reformen der Sozialsysteme. Den Zwängen der Globalisierung kann die Politik sich nur unterwerfen. Bundeskanzlerin Merkel ebenso wie viele Politiker aus allen traditionellen Parteien, von der CDU über SPD und FDP bis hin zu den Grünen behandeln die „Globalisierung“ als Ereignis, welches einer Naturkatastrophe gleich über die Menschheit hereingebrochen ist. Globalisierung vollzieht sich offenbar nach Regeln, die der Mensch nicht beeinflussbaren kann.
Doch entgegen dieser aus allen Medien vertrauten Interpretation ist die „Globalisierung“, verstanden als nationale Grenzen überschreitende Verflechtung wirtschaftlicher Systeme, kein Naturereignis, oder auch nur unabwendbare Konsequenz neuer Kommunikations- und Transporttechnologien. Sie wird durch zielstrebige Politik bewusst herbeigeführt. Vertrag für Vertrag, Gesetz für Gesetz sind es immer Regierungen und Parlamente, die mit ihren Beschlüssen die Barrieren für den grenzüberschreitenden Verkehr von Kapital und Waren beseitigen.
Globales Wirtschaften wird politisch gestaltet und unterliegt damit den vorherrschenden Ideologien. Marktwirtschaft ist im Verständnis neoliberaler Propheten wie Hayek und Friedman kein System, in welchem die Teilnehmer gemeinsam Mehrwert für alle schaffen. Es ist ein System, in welchem jeder versucht, sich selbst auf Kosten der anderen zu bereichern. Entsprechend darf es keine gesamtgesellschaftliche Steuerung marktwirtschaftlicher Aktivitäten geben, mit dem Ziel einer gerechten Verteilung gemeinsamer erarbeiteter Güter. Für die Anhänger der neoliberalen Lehre kann es keine Steuerung wirtschaftlicher Aktivitäten auf nationaler ebenso wenig wie auf globaler Ebene geben. Wirtschaftliche Tätigkeiten können nur auf der Ebene privater Aktivitäten beeinflusst werden. Diese Aktivitäten sind durch die von der Evolution vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten der „unsichtbaren Hand“ des Marktes limitiert, welche automatisch dafür sorgen, dass sich eine spontane Ordnung mit einem nicht zu beeinflussenden Ergebnis einstellt. Der Mensch muss sich gemäß der neoliberalen Heilslehre darauf beschränken, seinen Eigennutzen zu maximieren.
Der vorherrschende politische Zeitgeist suggeriert also, dass die Summe von Eigennutzen zwangsläufig zu einer Mehrung des Allgemeinwohls führt. Es scheint unbestritten, dass betriebswirtschaftlicher Nutzen automatisch zu volkswirtschaftlichem Wohlstand führt. Diese stille Übereinkunft hält in ihrer Beschränktheit einer Überprüfung jedoch nicht stand. Es ist geradezu zu einem Kernproblem marktwirtschaftlich organisierter Industriegesellschaften geworden, dass betriebswirtschaftlich unverzichtbare Maßnahmen volkswirtschaftlich immer weniger zu tolerieren sind. Dieses Problem wird deutlich, wenn man wesentliche Charakteristika und Zielsetzungen betriebs- und volkswirtschaftlichen Handelns einander gegenüber gestellt:
Unternehmen haben es im globalen Wettbewerb mit anderen Anforderungen zu tun als Staaten. Unternehmen erarbeiten neue Produkte und Dienstleistungen, um Marktanteile zu erringen und eine angemessene Rendite zu erwirtschaften. Hierzu müssen sie bessere Produkte und Dienstleistungen kostengünstiger als ihre Wettbewerber anbieten. Also steigern sie ihre Effizienz, senken die Kosten und reduzieren den Personalbestand.
Versucht man, diese Strategien und Maßnahmen auf Volkswirtschaften zu übertragen – mit publizistischem Großeinsatz empfehlen Politiker, Publizisten und Berater immer wieder, Deutschland wie ein Unternehmen zu führen, um so die Deutschland AG fit zu machen für den globalen Wettbewerb - so wird ein unüberbrückbares Dilemma offenbar. Welcher Bundespräsident, welcher Bundeskanzler, welche Regierung kann einen deutschen Staatsbürger aus Deutschland entlassen, damit die verbleibenden es wirtschaftlich besser haben? Wie soll die deutsche Bevölkerung, der Personalbestand der Deutschland AG, sozialverträglich abgebaut werden? Wie soll ein auf sein nationales Territorium beschränkter Nationalstaat seine Aktivitäten globalisieren?
Im Wettbewerb von Volkswirtschaften geht es nicht um Marktanteile sondern um private Investitionen, geht es nicht um Kosten senken, sondern darum, die verfügbare Kaufkraft zu erhöhen, geht es nicht um die Maximierung von Privateinkommen, sondern um die Optimierung des Volkseinkommen. Schließlich geht es im Wettbewerb von Volkswirtschaften auch nicht um survival-of-the-fittest, sondern auch um Kooperation, Solidarität, Verantwortung und uneigennützige Hilfeleistungen. Doch diese gibt es im neoliberalen Menschenbild nicht.
Globalisierung wird im neoliberalen Weltbild dargestellt als Kampf der Nationen um Wohlstand. Nur wettbewerbsfähige Länder können bestehen. Gabor Steingart predigt in einem Buch gar einen “Weltkrieg um Wohlstand”. Mit nationalistischem Pathos schürt er offen Fremdenangst: “Die neue Stärke der Asiaten führt zur Schwächung des Westens. Ihr Aufstieg ist unser Abstieg. In Europa sind schon heute Massenarbeitslosigkeit und Staatsverschuldung zu besichtigen. ... Lange kann sich der Westen diese Gegenwart nicht mehr leisten.“ Ganz in völkischer Tradition warnt er davor, dass Inder und Chinesen den Deutschen die Arbeit wegnehmen und es hierzulande zu einer De-industriealisierung kommen wird.
Zweifellos stehen einfache Tätigkeiten im produzierenden Gewerbe unter intensiven internationalen Konkurrenzdruck und werden in Deutschland zunehmend verschwinden. Der schmerzhafte Abbau von Arbeitsplätzen ist nicht neu. In der Landwirtschaft wie auch in anderen Branchen war gleiches zu beobachten, hier bedingt durch technischen Fortschritt. Vor einhundert Jahren waren mehr als zwei Drittel der Bevölkerung mit der Produktion von Nahrungsmitteln beschäftigt, heute reichen zwei Prozent, um uns alle mit Lebensmitteln im Überfluss zu versorgen. In den USA nähert sich der Anteil der in der Industrie Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigung der 10-Prozent-Marke. Trotzdem nimmt die dortige Industrieproduktion Jahr für Jahr um etwa zwei Prozent zu. Anders als von Steingart behauptet, erleiden weder die USA noch Europa eine De-industrialisierung. Der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung und der Beschäftigung geht zurück, nicht aber deren Output. Die deutsche Industrie ist nach wie vor hoch produktiv und profitabel – trotz der beklagten Billigkonkurrenz aus dem Ausland.
Hans Werner Sinn, neoliberale Ikone unter den deutschen Wirtschaftswissenschaftlern und Berater der Bundeskanzlerin, schürt ebenfalls derlei Ängste: „Wir haben nur noch die Wahl zwischen Massenarbeitslosigkeit und Lohnverzicht. Wird die Lohnsenkung verhindert, gibt es keine Handelsgewinne, vielmehr steigt die Massenarbeitslosigkeit immer weiter. ... Die Westeuropäer müssen also akzeptieren, dass die chinesischen Löhne zu ihrem Niveau aufschließen und dass die eigenen Löhne in Richtung chinesischer Ansätze rutschen.“
Diese Casino Mentalität verkennt, dass wertschöpfende Tätigkeit zu einem Zugewinn führt, der allen Beteiligten zu Teil werden kann. Wirtschaften kann nicht auf die Verteilung von Wohlstand reduziert werden. Wirtschaften ist das Erschaffen von Wohlstand. Das gilt auch für grenzüberschreitendes Wirtschaften. Der Import von Produkten aus Billiglohnländern ist aus der Sicht des importierenden Landes genau dasselbe, wie eine technologisch bedingte Produktivitätssteigerung oder eine Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich. Ob der damit erzielte Produktivitätsfortschritt zu Arbeitslosigkeit führt, hängt entscheidend mit davon ab, ob es gelingt, für genügend Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen oder nach mehr Freizeit zu sorgen. Doch genau auf diesem Auge ist die neoliberale Ideologie blind. Sie kennt keinen Konsum. Der Kanzlerin Berater Prof. Sinn behauptet allen Ernstes: „Eine Volkswirtschaft braucht den heutigen Konsum nicht, sie kann ihren Absatz auf die Investitionen ausrichten.“ Im neoliberalen Menschenbild ist kein Platz für menschliche Bedürfnisse nach Dingen wie Sicherheit, Teilhabe, Gerechtigkeit und Fairness oder gar Freizeit und Müßiggang.
Von neoliberalen Zwangsvorstellungen besessene Politiker, Publizisten und Lobbyisten wiederholen ständig, dass die „Globalisierung“ ein Sachzwang ist, dem sich alle politischen Entscheidungen unterzuordnen haben. Alternativen gibt es nicht. There is no alternative. Doch wer sich frei macht von ideologischer Beschränktheit, wird erkennen, dass die Globalisierung nicht nur viele Chancen und Risiken enthält, sondern die politisch Verantwortlichen auch vor neue Herausforderungen stellt. Der bisher überwiegend durch technischen Fortschritt vorangetriebene Strukturwandel in der Wirtschaft wird ergänzt durch einen Strukturwandel, der durch die Integration neuer Industriestaaten bedingt ist, welche historisch nur als Rohstofflieferanten in Erscheinung getreten waren. Dieser globale Strukturwandel führt, genauso wie es der durch technischen Fortschritt bedingte getan hat, zu einer deutlichen Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die politische Herausforderung besteht darin, diesen Strukturwandel so zu gestalten, dass möglichst viele Menschen von dem enormen Zugewinn an Wohlstand profitieren. Doch wer seinen Kopf in neoliberalen Sand steckt, ist nicht in der Lage, diese Dimension globalen Wirtschaftens zu erfassen.
Ökonomisches Denken und Handeln haben im Wettbewerb zwischen konkurrierenden Unternehmen in vielen Ländern zu einer stetigen Verbesserung von Material-, Kapital- und Arbeitseinsatz in der Produktion ebenso wie zu einer stetigen Erweiterung der Produkt- und Dienstleistungsangebote geführt. Wettbewerb als treibende Kraft der Weiterentwicklung von Wissenschaft, Kultur und Technik kann weiterhin zur stetigen Steigerung gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes genutzt werden, auch auf globaler Ebene. Hierzu bedarf es allerdings einer Steuerung die ethischen Prinzipien verpflichtet ist. Ethik und Moral kommen in der Natur nicht vor. Sie können nicht, wie von Hayek behauptet, vom Menschen nur „entdeckt“ werden. Ethik und Moral sind kulturelle Werte, welche der Schöpfungs- und Gestaltungskraft des Menschen entspringen. Menschen können entscheiden, was moralisch akzeptierbar ist. Sie können entscheiden, wie sie ihr Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ausgestalten wollen. Sie unterliegen nicht der Zwangsherrschaft einer „spontanen Ordnung.“ Es steht den Bürgern eines jeden Landes frei, durch politische Vorgaben dafür zu sorgen, dass der erwirtschaftete Wohlstand breiten Schichten der Bevölkerung zu Gute kommt und nicht nur einige wenige davon profitieren. Die in Deutschland praktizierte neoliberale Politik sorgt mit forcierten Lohnkürzungen und Verlängerung der Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich dafür, dass der Produktivitätsfortschritt ausschließlich Unternehmen und Kapitalgebern zu Gute kommt. Eine am gleichen Vorbild ausgerichtete Steuer-, Abgaben- und Rentenpolitik verschärft die zwangsläufige Kluft zwischen Habenden und Benachteiligten.
Das Ideal der sozialen Marktwirtschaft muss mit neuem Leben erfüllt werden. Die soziale Marktwirtschaft basiert auf dem Ideal, dass der Wert eines Menschen sich nicht auf seine Marktfunktion reduzieren lässt und deshalb im Sinne einer Solidargemeinschaft die Leistungsfähigeren der Gesellschaft Mitverantwortung für die Schwächeren und Hilfebedürftigen übernehmen müssen. Um diesem Ideal gerecht zu werden, gilt es Partikularinteressen zu überwinden und Besitzstandprivilegien abzubauen. Diesem Vorhaben werden naturgemäß viele auf Egoismen basierende Widerstände entgegengesetzt. Diese können und müssen überwunden werden. Auch der geistige "Vater" der sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhardt, war sich dieser Widerstände sehr wohl bewusst: "Die Privilegierten, die drinnen sitzen wollen allen anderen, die hereinwollen, das Leben sauer machen. Frage ich nach dem Geist, der hinter all diesen Bemühungen steht, dann bin ich zu harter Antwort genötigt: Es ist der pure Egoismus und nichts anderes, der versucht, solche Forderungen mit gesellschaftswirtschaftlichen Idealen und ethischen Prinzipien zu verbrämen. Tatsächlich möchte man sich abschirmen, Zäune um Berufe ziehen, man möchte abwehren, möchte schützen, Positionen mit künstlichen Mitteln bewahren."
Im globalen Wirtschaftssystem gibt es nur einen endlichen Bedarf an produzierender Arbeit. Dieser wird bedingt durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt immer mehr durch Maschinen abgedeckt. Es werden nur wenige Menschen gebraucht, um die Produktion für alle zu gewährleisten. Wissenschaft und Technik werden uns zwingen, die Grundlagen wirtschaftlichen Handelns neu zu definieren. Die Grundlage jeder Wirtschaftsform ist Knappheit, nicht Überfluss. Es geht darum, Wertschöpfungssysteme, in denen dank neuer Technik der Produktion ein immer geringerer Anteil zukommen wird, im nationalen ebenso wie im globalen Rahmen so zu gestalten, dass sich wieder alle an der Wertschöpfung beteiligen können und Entfaltungsmöglichkeiten haben. Die politische Aufgabe besteht darin, Menschen, deren qualifizierte Arbeitskraft in der Produktion von Gütern nicht benötigt wird, in die Solidargemeinschaft zu integrieren. Diese Aufgabe schließt ein, dass moderne Nationalstaaten auch soziale Ziele verfolgen für alle in ihren Grenzen lebenden Menschen, gleich welcher Herkunft und gleich welchen Glaubens. Territorial gebundener Sozialschutz kann der Schlüssel zu marktwirtschaftlicher Öffnung werden.
Unsere Institutionen und Wertvorstellungen stammen überwiegend aus der Zeit von Mangel und Not. Diese Institutionen und Wertvorstellungen beruhen auf einer Warenverteilung bei knappem Angebot. Sie werden an der Verteilung des Warenüberflusses scheitern, welcher nach dem anstehenden weltweiten Einsatz moderner Produktionstechnik so reichlich produziert werden wird oder werden kann. Nachdem wir betriebswirtschaftliche Wertmaßstäbe für die Regelung der Produktion etabliert haben, ist es an der Zeit, entsprechende Wertmaßstäbe für die Güterverteilung zu erstellen. Solange uns keine alternative Bestimmung eingefallen ist, beschränkt sich die betriebswirtschaftliche Funktion des Arbeitsplatzes darauf, den Verbraucher mit Kaufkraft auszustatten um menschliche Bedürfnisse als wirtschaftliche Nachfrage wirksam werden zu lassen. Ist die Arbeit erst einmal von der Produktion abgekoppelt, dann ist Arbeit betriebswirtschaftlich nicht mehr als eine Tätigkeit, die mit dem Gehaltsstreifen einen Verbraucher schafft.